Praesens ll Präsens
Komplexe Schatten zeichnen Muster auf den Boden. Gebogenes Messing verstrahlt goldenen Glanz. Zartweiße Betonblöcke ruhen auf dunklen Holzsockeln. An der Wand dazwischen: fotografische Collagen. Die Formen und Materialien der Arbeiten von Maja Wirkus gehen weit über das hinaus, was gemeinhin unter Fotografie verstanden wird. Was zunächst rein skulptural anmutet, ist jedoch das Ergebnis einer vielschichtigen fotografischen Erkundungsreise, in deren Verlauf Maja Wirkus Architektur mit Fotografie und Fotografie mit Architektur erforscht. Wie nähert man sich einem Raum? Welche Eindrücke hinterlässt er? Wie kann die Vielfalt der Wahrnehmung abstrahiert, verdichtet, weitergegeben werden? Wie ein weiterer Erfahrungsraum produziert werden?
Maja Wirkus transformiert Fotos als dreidimensionale Objekte in den Raum, zieht sie auf anderen Materialien auf, kombiniert, krümmt, vergrößert und zerschneidet sie. Anschließend fotografiert sie diese erneut, abstrahiert weiter und setzt neu zusammen – bis die Bilder ihre Ursprungsform verlieren. Das fotografische Bild als bekanntes, flaches, oft gerahmtes Objekt bricht zu neuen Ufern auf, manchmal erinnert nur noch der Negativabdruck eines Papiers im Beton daran. So entstehen (Bild-)Werke und Installationen als multimediale Kondensationen fotografisch-architektonischer Raumerfahrung, aber auch als subtile Verschiebungen, in denen Wahrnehmungsprozesse gestört, verändert und dadurch erst sichtbar werden. Das Fotografische, wie wir es aus dem Alltag kennen, wird bei Maja Wirkus an seinen Rändern erforscht und auf seine Strukturen hin befragt. Es dient als Medium der Einschreibung und Aneignung räumlicher Konstellationen.
Paradoxerweise stellt gerade diese „Ausweitung der Fotografie-zone“ über den flachen Papierbereich hinaus im Grunde etwas spezifisch Fotografisches dar, wenn man einen Blick auf die Entwicklung und multimediale Ausdifferenzierung fotografischer Bilder wirft. Fotografien prägen unseren Alltag längst nicht mehr nur als flache Schwarz-Weiß- oder Farbbilder, die in Fotoalben geklebt werden. Von Daguerres Metallträger über Glasplattennegative, Zelluloidfilm und Polaroids bis hin zu digitalen Datenansammlungen, riesigen Plakatwänden im öffentlichen Raum und der mobilen, digitalen Selfie-Flut scheint fotografischen Bildern konstitutiv ein multimediales, fluides Gleiten eigen, dessen Grenzen nicht absehbar scheinen.
In Anlehnung an Umberto Ecos Konzept des „offenen Kunstwerks“ haben die Arbeiten von Maja Wirkus eine Offenheit, die sich erst in der Rezeption durch den Betrachter voll entfaltet. Der von ihr aufgespannte fotografische Diskurs wird so zu einer Aneignung des Raums, an der der Besucher aktiv partizipiert. In dieser Art der Extended Photography eröffnen sich neue architektonische und fotografische Räume, die in einer schnellen, oberflächlich gewordenen Welt ein besonderes Erfahrungspotenzial bieten: Architektur wird hier nicht beiläufig durchschritten, vielmehr sucht Maja Wirkus das Potenzial des Raums als Ort der körperlichen Erfahrung für den Betrachter sichtbar zu machen und zur eigenen körperlich-gedanklichen Reflexion der umgebenden Architektur und ihrer materiellen Bedingtheit anzuregen. Ihre Rauminstallationen wirken auf eine sensible und tiefgründige Weise, die im Gedächtnis bleibt und dazu ermutigt, auch den Architekturen des Alltags erneut mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Maja Wirkus, geboren 1980, studierte Experimentelle Fotografie an der Kunsthochschule Kassel, wo sie mit einem Master mit Auszeichnung bei Prof. Dr. Johanna Schaffer und Prof. Bernhard Prinz abschloss. Sie gründete und leitete 2004 bis 2006 die Produzenten-Galerie Loyal in Kassel. 2009 bis 2010 besuchte sie die Sint-Lucas Universiteit Beeldende Kunst in Gent, Belgien. 2013 bis 2014 forschte sie mit dem Stipendium der Otto-Braun-Stiftung zu der Gruppe Praesens in Warschau. Ihre Arbeiten wurden in Mexico City, Hamburg, Berlin, Poznan, Lille und Gent ausgestellt. Maja Wirkus lebt und arbeitet in Deutschland und Polen
Jule Schaffer, geboren 1982, studierte Kunstgeschichte, Englische Philologie, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln und der Universidad de Sevilla. Als Doktorandin promovierte sie bis 2015 an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne zu Konzepten von Heiligkeit und Sakralität in der zeitgenössischen Fotografie und lehrte in Köln und Essen. Aktuell arbeitet sie für Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, schreibt freiberuflich als Kunstwissenschaftlerin und -kritikerin Essays und Artikel zu Themen rund um die zeitgenössische Fotografie und ist Co-Redakteurin des Blogs on-artbooks. Jule Schaffer lebt und arbeitet in Köln.