Somewhere on disappearing path
Pilcene, Lettland. Ein kleines Dorf, das aus der Zeit gefallen scheint. Ein Ort, der eigene Erinnerungen wachruft, obwohl man nie zuvor dort war. Kristallklare Seen, riesige Heuballen, Fliegenpilze auf Waldlichtungen, Holzhäuser unter dichter Schneedecke, bunt dekorierte Wohnzimmer und deren Bewohner. In den Bildern der lettischen Fotografin Iveta Vaivode stehen nicht die Unmittelbarkeit und begleitende Dokumentation im Vordergrund, sondern die bewusste Darstellung einer bestimmten Atmosphäre – die eines ursprünglichen, heute kaum noch existierenden Landlebens. So idyllisch, dass die Bilder beinahe inszeniert wirken. Zwar ist dies nicht der Fall, dennoch setzt die Künstlerin ihre Bilder bewusst in Szene. Damit fügt sie der klassischen Reportage eine neue Ebene hinzu – Iveta Vaivodes Aufnahmen verweisen über die reine Dokumentation hinaus ins Magische, Fiktive, Märchenhafte und werden darüber hinaus zu Symbolen der Vergänglichkeit.
Iveta Vaivode begibt sich auf eine Reise in die Heimat der eigenen Familie, in der sie selbst jedoch vorher nie war. Es ist eine visuelle Exkursion ins gleichzeitig Fremde wie Vertraute, die die Fotografin in regelmäßigen Abständen unternimmt – ohne vorher festgelegte Reihung oder formale Kriterien, nur mit einem offenen, neugierigen Blick. Aus den einzelnen stillen Porträts, ruhigen Interieur- und poetischen Landschaftsaufnahmen entsteht auf diese Weise eine ethnologische Langzeitstudie in jener abgelegenen Gegend Europas. In einer sich stetig beschleunigenden Zeit liegt die Exotik und das Fremde in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Bilder vermitteln nicht nur eine fast archaische Langsamkeit des Lebens, sondern auch die langsame Entstehung der Serie selbst. Denn die Nähe zu den Protagonisten und deren Zutrauen und Offenheit hat sich Iveta Vaivode als vom Dorfleben Außenstehende peu à peu erarbeiten müssen. Dadurch erst gelingt ihr die seltene Innensicht einer verschlossenen Gemeinschaft in der Tradition klassischer Dokumentarfotografen wie Josef Koudelka, Joakim Eskildsen, Walker Evans und Robert Frank.
Die Kamera ist Türöffner und Auslöser für menschliche Begegnungen, und somit ist die Fotografie für Iveta Vaivode rein subjektiv. Anders als in der reinen Dokumentarfotografie geht es ihr immer um den Urheber selbst und nicht um einzelne Vorgänge oder Ereignisse. Das die Realität abbildende Medium Fotografie erweitert Iveta Vaivode, um eigenen Visionen und Fantasien Ausdruck zu geben. Dabei ist das Fotografieren bei ihr nicht nur eine Methode, um etwas festzuhalten und sich später daran zu erinnern, sondern darüber hinaus ein bewusster Akt des Hinterfragens von Erinnerungsmechanismen zwischen Rezeption und Konstruktion.
Iveta Vaivode, geboren 1979, machte 2008 ihren Abschluss am Art Institute von Bournemouth (GB) und schließt derzeit ihren Master in Fotografie an der TaiK (Aalto Universität für Kunst, Design und Architektur) in Helsinki ab. In den letzten Jahren widmete sich Iveta Vaivode langfristig angelegten fotografischen Essays, um ihre Sujets mit größerer Tiefe angehen zu können. Ihre fotografischen Arbeiten beschäftigen sich hauptsächlich mit der Darstellung ländlicher Gemeinschaften im östlichen Teil von Lettland, Lattgale genannt. Ivetas Fotografien wurden in Lettland, Litauen, Großbritannien, Frankreich, China und Belgien ausgestellt. Sie wurde auch mit folgenden Preisen ausgezeichnet: Nikon Discovery Award (2008), FreshFaced+WildEyed (The Photographers Gallery, UK) sowie dem Burn Magazine Grant. Iveta Vaivode lebt und arbeitet in Riga.
Jule Hillgärtner, geboren 1978, promovierte zur Kriegsdarstellung im eingebetteten Journalismus als Stipendiatin des DFG-Graduierten-Kollegs für „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“ an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist seit 2001 am Museum für Moderne Kunst Frankfurt tätig, lehrt seit 2009 Fototheorie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und schreibt für „Album, Magazin für Fotografie“. Sie realisierte Ausstellungen im Rahmen von F-Stop Leipzig (2010), RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain (2012), am Frankfurter Kunstverein (2012/13) und an der Akademie der Künste Berlin (2014). Jule Hillgärtner lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
Die Eröffnung findet am Freitag, den 20. Februar 2015, um 19 Uhr im Amerika Haus in der Hardenbergstraße 22–24 statt.