Karolina Wojtas
Ein Kind steht in einem Korridor, das Gesicht zur weißen Wand gerichtet. Das marineblaue Halstuch erinnert an eine Schuluniform. Daneben eine weit geöffnete Tür. Führt sie in ein Klassenzimmer? Sehen wir ein spielendes Kind, das sich jeden Moment umdreht, um nach den versteckten Schulkamerad:innen zu suchen oder beobachten wir vielmehr eine Strafsituation? Eindeutig ist das Bild nicht.
„Wenn Abzgram Fragen aufwirft, so sicher nicht, um klare Antworten zu provozieren.“ – Matthias Gründig, Gewinner des C/O Berlin Talent Award 2022 – Theorist
Um Eindeutigkeiten geht es der polnischen Medienkünstlerin Karolina Wojtas (*1996) sowieso nicht. So wirft selbst der Titel Abzgram Fragen nach der Bedeutung auf. Handelt es sich um ein erfundenes Wort, offen für Assoziationen und Interpretationen? Oder ist es der Name eines Spiels, dessen Regeln wir nicht kennen? Von Regeln und Grenzen scheint Wojtas nicht viel zu halten, zumindest nicht in ihrer fotografischen Praxis. In ihrem seit 2017 konstant wachsenden Projekt bricht die junge Künstlerin mit denkbar allen Regeln der Fotografie: seien es schräge Kompositionen, übersättigte Farben, Unschärfe oder ein aggressiver Einsatz des Blitzes. Von Harmonie keine Spur.
Die komplexe Multimedia-Arbeit besteht aus Videos und einem Wirrwarr an Fotografien, die Wojtas mal vorfindet, mal inszeniert und die sie für die Bedruckung verschiedener Materialien verwendet, mit denen sie den Ausstellungsraum in begehbare Installationen verwandelt. Im Sinne eines Reenactments lädt Wojtas die Besucher:innen ein, mit den Objekten im Raum zu interagieren und sich dabei in die Welt des Kindes zurückzuversetzen. So finden sich etwa Stühle, auf denen man nicht sitzen kann oder Elemente, wie das Periodensystem, die dem Schulkontext entnommen oder besser zweckentfremdet und auf surreale Weise mit ihren fotografischen Arbeiten zusammengewürfelt werden.
Den Ausstellungsraum gestaltet Wojtas dabei nicht ohne Grund wie ein Klassenzimmer, das umzäunt von einem kahlen Gitter an eine Strafvollzugsanstalt erinnert. Durchschreitet man die Gittertür mit der Aufschrift Szkoła (polnisch Schule), so ertönen Anweisungen, wie man sich nach den Regeln des „Classroom Entry Procedure“ zu verhalten hat: stillstehen, sich nicht berühren, die Hände am Körper entlang gestreckt, den Blick geradeaus.
Mit böser Ironie antwortet die Künstlerin so auf das rigide polnische Schulsystem, das Kindern Regeln auferlegt, die militärische Züge haben. Gerade in Anbetracht der patriotisch-nationalistischen Ausrichtung der aktuellen polnischen Politik, findet Wojtas eine kreative und bisweilen auch bissige Form der Kritik, indem sie der Ordnung, Kontrolle und Disziplinierung im Schulalltag eine Bild- und Erlebniswelt aus Kitsch, Spiel, Exzentrik und Unsinn entgegensetzt. Wenn man dem Schweigen und der Disziplin als Mittel des Respekts entsagt, werden dann Kreativität und Experiment möglich?
Aus Sicht der Jury interpretiert Wojtas‘ künstlerische Strategie auf ideale Weise das Thema der New Documentary Strategies, für das der C/O Berlin Talent Award vergeben wird. Die Künstlerin erhält ein Preisgeld und wird mit der Einzelausstellung Karolina Wojtas . Abzgram bei C/O Berlin geehrt. Zur Ausstellung erscheint eine begleitende Publikation bei Spector Books, Leipzig, herausgegeben von Dr. Kathrin Schönegg für die C/O Berlin Foundation, mit Texten des parallel ausgezeichneten Theoretikers Matthias Gründig.
Karolina Wojtas (*1996, PL) schöpft aus der Fantasie von Kindern und verwandelt diese in begehbare Installationen. Ihr Studium hat sie am Institute of Creative Photography in Opava, Cech Republic, und an der Film School Łódź in Polen abgeschlossen. Sie war für den reGeneration Prize des Musée d’Elysée und die Plat(t)form des Fotomuseum Winterthur nominiert und wurde mit dem ING Unseen Talent Award 2019 in Amsterdam ausgezeichnet. Ihre Arbeiten wurden auf dem Fotofestival in Lodz (2021), dem Krakow Photomonth (2020) und dem Noorderlicht International Photo Festival (2020) gezeigt.
Matthias Gründig (*1989, DE) hat an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Kunstgeschichte und Bildwissenschaft (BA) sowie Kunstgeschichte und Filmwissenschaft (MA) studiert. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter unterrichtet er von 2015– 2022 Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste, Essen. Seit August 2022 ist er als selbstständiger Fotohistoriker und -kurator tätig und schließt aktuell sein Promotionsvorhaben mit einer Schrift zu Fotografischen Porträts als Ware und Währung ab. Als Mitherausgeber verantwortet Gründig mehrere Ausstellungskataloge sowie ein Sonderheft des PhotoResearchers zum Themenkomplex Fotografie und Spiel (2017). Er publizierte bisher unter anderem in Zeitschriften wie History of Photography, Fotogeschichte und EIKON.